How2 radically overcome EU-borders – deutsche Version

Gliederung

0. Vorwort

1. Kurze Erklärung der auf unserer Tour verwendeten Begriffe

2. Gruppenfindung/ -struktur

3. Aktionsvorbereitung

3.1 Treffen, Sprache und sichere Kommunikation

3.2 Gesetze, rechtliche Folgen, Rechtsanwält*innen

3.3 Finanzen

3.4 Fahrzeuge und Strecke

3.5 Packliste

4. Aktionsdurchführung

4.1 Treffen, Sprache und sichere Kommunikation

4.2 Gesetze, rechtliche Folgen, Rechtsanwält*innen

4.3 Finanzen

4.4 Fahrzeuge und Strecke

4.5 Flucht ist ein Gesundheitsrisiko

5. Aktionsnachbereitung

___________________________________________________________________________

Vorwort

Wir sind eine Gruppe von Menschen die sich Anfang 2021 zusammengefunden hat, um in direkter Aktion Menschen in Bewegung [people on the move] nach Europa zu unterstützen. Zielstellung war und ist die logistische und finanzielle Hilfestellung, um die Bewegung zu beschleunigen und zu erleichtern. Im Laufe des Prozesses haben wir uns mit anderen Menschen, die zu diesem Thema arbeiten, vernetzen können und Wissen und Erfahrung gesammelt. Ziel dieses Dokuments ist es, diese Informationen weiter zu geben und Menschen bei selbiger Aktionsplanung zu unterstützen. Wir wünschen uns eine Welt, in der sich Menschen frei und sicher für ihre Lebensräume entscheiden können.

 

  1. Kurze Erklärung der auf unserer Tour verwendeten Begriffe

Phase 1: Tour vom ersten PickUp zum Safe House (bereits im Schengen-Raum)

Phase 2: Tour vom Safe House nach Deutschland

PickUp: Treff- und Einstiegspunkt

Drop Off: Ausstiegspunkt

[Grundsätzlich wurden Grenzen so überwunden, dass die hiker die grüne Grenze zu Fuß überquerten und die driver den Grenzübergang im Auto passierten.]

hiker: Menschen in Bewegung

driver: unterstützende Menschen mit Autos

Transportauto: Auto, für den PickUp der hiker

Spähauto: Auto, welches vor dem Transportauto fährt, um die Strecke zu beobachten und entsprechend zu reagieren, zum Beispiel auf Polizeikontrollen

Back-Up-Team: Menschen, die logistische, finanzielle, rechtliche, kommunikative, emotional stabilisierende und möglicherweise sprachmittelnde Unterstützung während der Aktion leisten

Safe House: bezeichnet den sicheren Zwischenstopp, wo driver und hiker regenerieren können

 

  1. Gruppenfindung/ -struktur
  • Wir empfehlen das Agieren in einer Gruppe.
    • Zwei driver (Fahrer*in + Beifahrer*in) pro Auto. Der*die Beifahrer*in kann die Kommunikation und Navigation übernehmen.
    • [Tipp: Hier empfiehlt sich darauf zu achten, dass nicht zwei als männlich gelesene Personen in einem Auto sind. Das sorgt für ein verdachtsunauffälligeres Fahren, da Polizei zwei männlich gelesene Personen eher restriktiv behandelt.]
    • Neben den Transportautos ein Spähauto
    • Ein Back-Up-Team
    • Personen, die Fluchterfahrung haben und die Sprache der hiker sprechen.
  • Neue Gruppenmitglieder finden?
    • Scannt Gruppen und Kontexte in denen ihr aktiv seid. Wer steht politisch klar zu dieser Sache, wem schreibt ihr zu, die Motivation zu haben, mitzuwirken? Sprecht diese an.

 

  1. Aktionsvorbereitung

3.1 Treffen, Sprache und sichere Kommunikation

  • Finden eines gemeinsamen Aktionskonsens und klären der persönlichen Kapazitäten (Zeitmanagement und persönliche Ressourcen und Einschränkungen, Risikobereitschaft, …)
  • Achtet auf inklusive Sprache (Wortwahl, Sprachmittlung, …)
  • Denkt an sichere Kommunikation:
    • verschlüsselte Messenger wie Signal; verschlüsselte Pads wie Cryptpad
    • Internetrecherche mit Tails-Stick und Tor-Browser
    • physische Treffen ohne Handys
    • spätestens in der Aktion: nicht-registrierte SIM-Karten verwenden und cleane Handys nutzen (heißt: ohne Historie, keine Daten und Kontakte gespeichert, bestenfalls Lineage als Betriebssystem)
    • [Tipp: Sprecht Personen, die Erfahrungen mit sicherer Kommunikation haben an und euch die Handys präparieren können. Oder recherchiert selber im Internet, wie ihr Handys clean bekommt. Bezüglich der SIM-Karten: : Menschen in Bewegung wissen häufig, wo sie nicht-registrierte SIM-Karten erhalten können.]
    • Bittet die hiker ein verschlüsselten Messenger wie Signal zu nutzen.
    • in der Aktion: private Handys nicht mitnehmen

3.2 Gesetze, rechtliche Folgen, Rechtsanwält*innen

  • Informiert euch je nach Routenplanung zu den Strafnormen in den Staaten, betreffend des “Einschleusens von Ausländer*innen” beziehungsweise der “Schlepperei”
  • [Tipp: Im Anhang findet ihr unsere Recherche zu der Rechtslage in unterschiedlichen Staaten, Stand 1. Quartal 2021.]
  • Kümmert euch im Vorfeld um potentielle Rechtsanwält*innen, idealerweise eine*n Anwält*in für jeden Staat, durch den ihr fahrt. Anwält*innen müssen nicht unbedingt vorab eingeweiht werden. Es genügt, ihre Kontaktdaten für den Notfall parat zu haben.
  • [Tipp: Im Anhang findet ihr eine Checkliste mit Fragen fürs BackUp-Team, im Falle einer Festnahme der driver.]
  • Die Anwält*in kann auf eine Einstellung des Verfahrens oder einen Freispruch hinwirken.
  • Euer Auto wird im Falle des Aufgreifens beschlagnahmt werden.
  • In der Untersuchungshaft könnt ihr gegebenenfalls eine Kaution hinterlegen und zunächst freikommen. Das kann mehrere tausend Euro kosten. Eine öffentliche, anonymisierte Spendensammlung ist eine Möglichkeit, um das Geld einzutreiben. Anti-Repressions-Strukturen können hier vorab Rat erteilen.
  • Rechtliche Folgen für die hiker im Falle eines Aufgreifens sind häufig ein PushBack. Das Suchen um Asyl kann eine Möglichkeit sein, das PushBack zu verhindern. Das muss aber der*die hiker selber entscheiden, ob er*sie tatsächlich im entsprechenden Staat ein Asylverfahren beginnen möchte.
  • Die driver sollten dem BackUp-Team Aktionskarten übergeben (siehe Anhang). Darauf stehen Kontakte, die im Falle einer Inhaftierung notwendig sind sowie alle Daten, mit denen eine Anwält*in arbeiten kann.

3.3 Finanzen

  • Ausgaben:
    • Überlegt euch, welche Ausgaben ihr haben werdet, abhängig von der zu fahrenden Kilometer und den Spritkosten.
    • Weitere Kosten:
      • Maut und Vignetten
      • ggf. Handy
      • ggf. SIM-Karten und Guthaben
      • Verpflegung
      • ggf. finanzielle Unterstützung (inkl. Transaktionsgebühren) der hiker um zB zum ersten PickUp Punkt zu kommen
  • Einnahmen:
    • Sprecht solidarische Menschen in eurem Umfeld nach Spenden an. Mit ihnen kann abstrakt über das Vorhaben gesprochen werden.
  • Organisiert pro Auto eine Kreditkarte. Bargeld kann einen möglichen Strafvorwurf erschweren.
  • Plant und rechnet mit finanziellem Puffer. Es entstehen immer Kosten, die vorab nicht vorausgesehen werden.
  • Plant und rechnet mit zusätzlicher Unterstützung für die hiker über die Aktion hinaus. Vereinbart vorher, wie weit ihr die hiker im Nachhinein unterstützen könnt und wollt.

3.4 Fahrzeuge und Strecke

  • Achtet darauf, dass eure Autos verkehrstauglich sind incl. Erste-Hilfe Kasten und Warndreieck, TÜV und Versicherung
  • [Tipp: Wie haben gute Erfahrung mit unauffälligen und/ oder Oberklasse-PKW´s gemacht]
  • Plant die Fahrstrecke und Pausen incl. Pufferzeiten durch Stau oder Grenzkontrollen
  • [Tipp: Es kann auch durch PushBacks, Emotionen, Sprachbarrieren oder Neu-Orientierung zu Verzögerungen kommen, plant genug Puffertage ein.]
  • Testet eure Navigations-App auf eurem cleanen Aktionshandy vorher.
  • Plant die PickUp und DropOff Orte und Zeiten. Vermeidet gut einsehbare Orte, Nähe zu Polizeiposten/ Kasernen, Militärstraßen, etc. Nutzt Satellitenaufnahmen und schaut euch vorher das Gelände an.
  • Wenn möglich sollten hiker und driver gemeinsam PickUp, DropOff und Strecke planen.
  • [Tipp: Nutzt, wenn möglich das Wissen lokaler Aktivist*innen für die Routenplanung.]
  • Achtet darauf Strecken mit vermehrten Polizeikontrollen zu vermeiden und gute Beobachtungsposten für das Spähauto zu bestimmen, während des PickUps und DropOffs.
  • [Tipp: Die Dämmerung kann euch schützen, in der Dunkelheit wiederum können Autoscheinwerfer verräterisch sein]
  • Denk daran, dass PickUp und DropOff so schnell wie möglich ablaufen sollten und die Koordinaten allen drivers wie hikers bekannt sein sollten.
  • Plant eventuell mit einem SafeHouse, in dem drivers und hikers regenerieren können.
  • Um ein SafeHaouse zu finden, nutzt eigene Kontakte in Staaten auf eurer Route oder recherchiert über linke aktivistische Gruppen im Internet und fragt diese an.

3.5 Packliste

  • Klamotten, Essen, Trinken, Hygieneartikel für die hiker
  • Medikamente für die hiker falls benötigt
  • Power Banks für hiker
  • cleane Handys mit Prepaid-SIM-Karten für driver
  • …und weiteres, was eben auf einer Reise, gegebenenfalls auch während einer Pandemie, benötigt wird.

 

  1. Aktionsdurchführung

4.1 Treffen, Sprache und sichere Kommunikation

  • Nutzt Messenger-Gruppen für driver, Spähauto und Backup
  • [Tipp: Achtet darauf, dass eure Spachmittler*in in der Aktion immer erreichbar ist]
  • Überlegt euch ein System beziehungsweise Codes, wie ihr euch vor Polizeikontrollen und Verkehrssituationen warnen könnt.
  • Notiert euch die Nummer eures BackUp-Teams auf euren Körper.

4.2 Gesetze, rechtliche Folgen, Rechtsanwält*innen

  • Im Falle eines Aufgriffs:
    • Ruhig bleiben. Nichts sagen. Nichts unterschreiben. Wenn möglich, das Handy ausschalten.
    • Das BackUp sollte erst dann agieren, wenn der Anruf der verhafteten driver erfolgt ist. Vorher kann eine Anwält*in nicht aktiv werden.
    • Die hiker können entweder gepushbackt werden oder um Asyl bitten. Je nachdem ist eine Unterstützung erst möglich, wenn die Situation klar ist.

4.3 Finanzen

  • Bezahlt ausschließlich mit Kreditkarte.
  • Typische Kosten sind Benzin, Verpflegung, Maut/ Vignette, im Safe House gegebenenfalls neue Handys und SIM-Karten für die hiker.

4.4 Fahrzeuge und Strecke

  • Achtet darauf, dass es in Grenznähe oft keinen Handyempfang gibt. Das verhindert Kommunikation während PickUp und DropOff. Kein Handyempfang bedeutet nicht, dass es kein GPS-Signal gibt. Eine Navigation im Grenzgebiet ist mit einer App so dennoch möglich.
  • [Tipp: Die hiker können im Grenzgebiet auf der Rückbank unter Decken liegen. Abseits des Grenzgebiets können sie aufrecht sitzen.]
  • Nutzt ihr ein Spähauto, sollte der Abstand zwischen Spähauto und Transportauto bei PickUp und DropOff nur wenige Minuten betragen, da in Grenznähe viel patrouilliert wird. Abseits der Grenzgebiete kann der Abstand beider Autos großer gewählt werden (bis zu 20min), um besser auf zB Ausfahrten und Verkehrskontrollen zu reagieren.
  • Zur Navigation bieten sich Apps mit Offline-Maps an. Es empfiehlt sich zusätzlich auch eine physische Karte zu nutzen.
  • [Tipp: Zur Ablenkung und Tarnung in kritischen Situationen kann dem Spähauto eine große Faltkarte dienen.]

4.5 Flucht ist ein Gesundheitsrisiko

  • In welcher physischen und psychischen Verfassung die hiker sind, ist nicht vorhersehbar. Stellt euch darauf ein, dass Traumata und damit einhergehende Folgen wie Aggression, Intro- oder Extrovertiertheit etc. der entsprechende Raum gegeben werden muss.

 

  1. Aktionsnachbereitung
  • Gönnt euch nach der Aktion genug Zeit zur Reflektion und Verarbeitung.
  • Plant als Gruppe eine gemeinsame Reflektion und Bewertung.
  • Macht einen Kassensturz.
  • Wie geht es für die hiker weiter:
    • Bietet eine Asylberatung an
    • Besprecht mögliche Weiterfahrten mit den hiker (eventuell sind auch öffentliche Verkehrsmittel möglich)
  • Wie geht es für die driver und das Backup weiter:
    • Überlegt euch weitere Aktionen!